Leseprobe aus dem Buch " Bedroht in Albanien" von Wilhelm R. Vogel
alle Rechte bei Autor und Verlag.
Julius Wondraschek, Beamter im Ruhestand, und seine ebenfalls pensionierte Freundin, eine Uniprofessorin für Biologie, haben ein Rundreise nach Albanien gebucht. Die Reisegruppe hat ihren Weg in Tirana begonnen, sie ist bereits einige Tage unterwegs und hat gegen Abend Berat erreicht.
Das Abendessen nahmen sie in einem der Lokale nahe dem Fluss Osum ein. Die Gaststätten lagen, eine neben der anderen, am Bulvardi Republica. Die meisten waren einfach und servierten nur Getränke. Deren Auswahl ließ sich durch einen Blick auf den obligatorischen, mit Glastüren versehenen, Kühlschrank im Gastgarten erkennen. Das Bier allerdings wurde gezapft und hatte die Qualität, wie sie überall am Balkan zu finden ist: Es war ausgezeichnet. Essen gab es nur in wenigen Lokalen, aber Christine wusste Bescheid.
Beim Heimgehen schlug Martina vor, eine spiritistische Sitzung abzuhalten, Grete war sofort Feuer und Flamme. Heinz bat die beiden, ihm das erst einmal zu erklären. Natürlich hatte er gewisse Vorstellungen, aber ob diese richtig waren, wusste er nicht.
Martina war in ihrem Element. „Wir setzen uns einfach im Kreis um einen Tisch, zünden eine Kerze an und rufen irgendjemanden, der schon verstorben ist. Jemand von uns ist das Medium – das könnte ich sein, ich habe das schon öfter gemacht. Dem Geist können wir dann Fragen stellen.“
„Dann war meine Vorstellung ohnehin korrekt“, bestätigte Heinz, aber weder er noch Gerlinde hatten Interesse daran. Julius erklärte seine grundsätzliche Bereitschaft, meinte aber, er wäre zu müde. Maria sagte offen heraus, dass sie für einen derartigen Unsinn nicht zur Verfügung stünde. Franz meinte, er wäre zwar neugierig, aber ebenfalls viel zu müde und läge im Geiste schon im Bett. Er würde einschlafen, sobald man das Licht abdrehte.
„Funktioniert das auch mit lebenden Menschen, wenn diese weiter weg sind?“ Pamela hatte das gefragt, aber Kevin reagierte unerwartet emotional.
„Das ist doch kompletter Unsinn!“, fauchte er seine Frau an.
„Sie können auch mit verstorbenen Haustieren in Kontakt treten“, versuchte Martina das Interesse der anderen zu wecken, aber vergeblich. Vielleicht war es einfach schon zu spät am Abend.
Julius fiel todmüde ins Bett, konnte aber nicht einschlafen. Vielleicht hätte ich doch an der spiritistischen Sitzung mitmachen sollen, überlegte er, nachdem er sich eine gute Stunde im Bett gewälzt hatte. Als Student hatte er ein paarmal an derartigen Aktivitäten teilgenommen. Eigentlich mochte er diesen Hokuspokus, vor allem, wenn Leute dabei waren, die daran glaubten. Das war damals leider kaum jemals der Fall gewesen.
Er fragte sich, ob es hier in der Zeit der Diktatur auch Interesse an spiritistischen Sitzungen gegeben hatte. Er konnte sich erinnern, gelesen zu haben, dass sich diese gerade in Diktaturen bei der Bevölkerung besonderer Beliebtheit erfreuten. Wahrscheinlich, weil die Menschen in der Welt der Geister den einzigen Lebensbereich sahen, auf den die Geheimpolizei keinen Zugriff hatte.
Unter Hoxha war religiöse Betätigung verboten gewesen, das hatte für alle Religionsgemeinschaften gegolten. Anders als spiritistische Zirkel, die sich bildeten und wieder auseinandergingen, ohne dass es notwendigerweise fixe Rollen und Dokumente gab, waren Religionsgemeinschaften jedoch leicht von der Polizei ausfindig zu machen. In einer Religionsgemeinschaft aktiv zu sein war demnach deutlich riskanter, als gelegentlich zu einer Séance zu gehen.
Ihm fiel ein, dass Kevin ziemlich emotional gemeint hatte, die Séance wäre kompletter Unsinn. Natürlich war sie das, aber warum hatte er so emotional reagiert, beinahe, als ob er Angst davor hatte? Bisher war er seiner Frau gegenüber immer extrem fürsorglich aufgetreten, diesmal aber hatte er sie an der Hand gepackt und hätte sie weggezerrt, wenn sie nicht nachgegeben hätte. Ihr war die Szene offenbar peinlich gewesen. Im Weggehen hatte sie „Du hast natürlich recht“ gesagt, wie um seine Intervention weniger schroff wirken zu lassen. Julius hatte schon mehrmals den Eindruck gehabt, dass ihr die Harmonie in ihrer Ehe außergewöhnlich wichtig war. Ob das nur dann galt, wenn Außenstehende in der Nähe waren, oder ob sie generell ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis hatte, wusste er natürlich nicht. Ihm schien Pamela nicht nur sehr jung, sondern auch naiv und unerfahren zu sein. Aber das war eher ein Bauchgefühl, er konnte sich auch irren.
Da er ohnehin nicht schlafen konnte, griff er in die langsam leichter werdende Tasche mit den noch ungelesenen Büchern. Er würde den Zufall entscheiden lassen.
Es war erneut ein Buch von Ismail Kadare, das er herauszog. Die ‚Schleierkarawane‘ beschrieb die Geschichte eines Mannes, dessen Aufgabe es war, Gesichtsschleier für Frauen in die entfernteren Teile des Reiches zu bringen. Dorthin, wo es bislang kaum verschleierte Frauen gab. Durch ein Dekret des Sultans sollten endlich auch diese verpflichtet werden, sich zu verhüllen. Mit dem angesprochenen entfernten Teil des Reiches war offenbar das Territorium des heutigen Albaniens gemeint. Interessiert begann Julius zu lesen.
Der Mann, dessen Geschichte erzählt wurde, zog seinem Auftrag gemäß mit seinen bepackten Eseln Richtung Norden. Die Tiere waren mit riesigen Mengen an Gesichtsschleiern beladen. Für den Mann war die Verschleierung von Frauen etwas Selbstverständliches, etwas anderes hatte er noch nie gesehen, nur gerüchteweise davon gehört. Die Vorstellung, dass Frauen unverschleiert sein könnten, entsetzte ihn. Undenkbar, wie sollte das gehen? Unverschleierte Frauen waren für ihn der Gipfel der Unvernunft.
Die ersten unverhüllten Frauen traf er an einer Wasserstelle an, an der er seine Esel tränkte. Als er sich dem Brunnen näherte, erwartete er jeden Augenblick, dass sie kreischend vor ihm fliehen würden. Entgegen seinen Erwartungen blieben sie nicht nur bei der Tränke, sondern begrüßten ihn auf das freundlichste, lachten fröhlich miteinander und wünschten ihm, als er sich anschickte weiterzuziehen, eine gute Reise.
Der Mann war zugleich irritiert und fasziniert und konnte an nichts anderes mehr denken als an die lachenden, glücklichen Gesichter dieser Frauen.
Schnell gewöhnte er sich an den Anblick unverschleierter Frauen, bis ihm dieser selbstverständlich wurde. Dennoch erledigte er gewissenhaft seinen Auftrag.
Als er viele Monate später in die Region zurückkehrte, hatte sich das Land verändert. Auf der Straße waren kaum Menschen und gar keine Frauen mehr zu sehen, gelegentlich hörte er aus den Häusern ein Schluchzen. Im Bewusstsein, dass er es gewesen war, der das Unglück über diese Menschen gebracht hatte, wurde der einfache Mann verrückt.
Julius hatte bis tief in die Nacht gelesen, aber es war ihm nicht möglich gewesen, vor Ende des Buches aufzuhören. Lange nach Mitternacht legte er es weg und schaltete das Licht aus. Maria war schon längst eingeschlafen. Ein paarmal wälzte er sich noch hin und her, um eine schmerzlose Schlafposition zu finden, endlich fiel auch er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Erst gegen Morgen, an der Grenze zum Erwachen, begannen die Erinnerungen an das Buch in seinem Kopf erneut zu wachsen. Wie in einem Film erhob sich das Gelesene zu neuem Leben. Er sah sich im Reisebus, umgeben von verschleierten Frauen. Von Panik ergriffen richtete er sich in seinem Bett auf und sah zu seiner Freundin hinüber, in der ängstlichen Erwartung, sie mit einem schwarzen Gesichtsschleier neben sich im Bett liegen zu sehen. Noch immer nicht vollständig munter trat er ans Fenster und war erst beruhigt, nachdem er auch die Frauen auf der Straße gesehen hatte. Der Versuch des Sultans war letztlich erfolglos geblieben.