2 Leseproben aus dem Buch "Verschollen in Marrakesch" von Wilhelm R. Vogel
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Julius Wondraschek, ein alter und bereits pensionierter Beamter, reist nach Marrakesch. Da er sich, wenngleich ungläubig, für Religion interessiert, liest er ein paar Bücher über den Islam und besucht auch die große Moschee in Wien. Es erstaunt ihn, wie wenig er über diese Religion weiß, in einem Kapitel beschreibe ich diesen Moscheebesuch, bei dem der Protagonist auch viel über den muslimischen Glauben erfährt. Natürlich ist dieses Buch ein fiktiver Roman, aber für diesen Teil des Buches habe ich die Moschee selbst besucht und, im Wissen über mein Unwissen, den Text dieses Kapitels einem der drei Imame gesendet und diesen gebeten, die religiösen Inhalte auf deren Richtigkeit zu prüfen. Ich bedanke mich an dieser Stelle nochmals für dieses Entgegenkommen.
Heute, am Tag vor der Abreise, stand der Besuch der Moschee auf dem Programm. Aus diesem Grund suchte sich Julius seine Socken mit besonderer Sorgfalt aus. Kopftücher für Frauen wären nicht erforderlich, hatte man ihn informiert, aber die Schuhe müsse man ausziehen, der Teppiche wegen. Und da wollte er nicht unbedingt mit löchrigen Socken daherkommen.
Eigentlich ist es absurd, dachte er, in Österreich leben etwa 700.000 Muslime, und die meisten Nichtmuslime haben keine Ahnung von deren Leben. Man kennt seine Nachbarn nicht und ist daher auf die Berichte in den Medien angewiesen, die in vielen Fällen von genauso ahnungslosen Menschen geschrieben werden und häufig bloß Vorurteile abbilden. Aber zumindest er würde heute etwas dazulernen.
Die Moschee war Ende der siebziger Jahre vom stadtbekannten Baumeister Richard Lugner errichtet worden. Zwar gab es in Wien an die hundert Moscheen, manche davon waren nur kleine, versteckte Gebetsräume. Die Moschee am Bruckhaufen in Floridsdorf war jedoch die Einzige in Wien, die auch von außen als Moschee erkennbar war: mit einer großen Kuppel und einem Minarett versehen.
Vor der Moschee lud ein Schild interessierte Personen zum Besuch ein. Zwölf Leute waren es an diesem Tag, fast nur ältere Menschen. Das mochte aber auch an der Zeit liegen – die Führung fand an einem Wochentag um zehn Uhr statt. Die Gruppe bestand überwiegend aus Frauen. Nur drei Männer waren gekommen.
Der Imam stellte sich vor und bat die Gäste in die Bibliothek. In der Mitte des Raumes waren Tische zu einem großen Rechteck zusammengestellt, an dem etwa vierzig Menschen Platz gehabt hätten. Er war einer der drei Imams der Moschee, noch relativ jung, stammte vom Balkan, sprach perfekt deutsch und offenbar auch arabisch. Routiniert erklärte er den Anwesenden die Grundelemente des Islam. Julius kannte die meisten Fakten und konzentrierte sich daher auf die Art der Präsentation. Der Imam hatte einen gepflegten, teilweise ausrasierten Bart, trug Alltagskleidung mit einem weißen Hemd und einem Sakko, jedoch keine Krawatte, und nichts wies auf seinen Beruf hin. Er sprach ohne Pathos, offensichtlich bemüht, seinen Gästen ein gewisses Grundverständnis zu vermitteln und wohl auch die Angst vor dem Unbekannten zu nehmen. Zu Beginn stellte er die Beziehungen der drei großen monotheistischen Religionen dar. Nach islamischer Auffassung gab es einen Gott und mehrere Propheten, welche über diesen berichtet hatten. Demnach hatte das Christentum das Judentum ergänzt und der Islam hatte diese Entwicklung schließlich vervollständigt. Zu den vom Islam anerkannten Propheten gehörten auch Noah, Abraham, Lot, Moses, David, Salomon, Johannes der Täufer und Jesus, der eine besondere Wertschätzung genoss. Dessen Mutter Maria – die jungfräuliche Empfängnis gehörte offenbar auch zum islamischen Glaubenskanon – war sogar eine eigene Sure gewidmet.
Mohammed wurde als letzter Prophet angesehen, der mit dem Koran die Prophezeiungen vervollständigt hatte. Adam und Eva kannte man im Islam ebenfalls, allerdings hatte in ihrer Überlieferung Gott den ersten Sündenfall verziehen, weshalb es keine Erbsünde gab.
Zwei Engel hätte jeder Mensch, erklärte der Imam weiter, die die guten und schlechten Taten mitschrieben. Mit drei Ausnahmen: Kinder würden nicht bewertet, ebenso Geisteskranke und Schlafende. Die Menschen würden am Jüngsten Tag, der nicht bekannt war, aber jedenfalls auf einen Freitag fallen würde, Rede und Antwort stehen müssen.
Danach erzählte der Imam über seine Moschee. An Freitagen kamen an die 2.500 Menschen, um mittags hier zu beten, dazu wurden das große Zelt, das Julius vor der Moschee aufgefallen war, und die Gänge als zusätzlicher Gebetsraum benützt. Die Predigt wurde über Lautsprecher übertragen. Gepredigt wurde auf Arabisch mit einer Übersetzung ins Deutsche. In anderen Moscheen predigte man oft in türkischer oder bosnischer Sprache, allerdings würde Deutsch immer wichtiger, weil es vor allem für die Jungen die Sprache war, die sie am besten beherrschten. Das war vor allem dann wichtig, wenn es um komplexe Zusammenhänge ging. Deutsch war ihre Schulsprache. In dieser Sprache lernten sie, die Welt zu verstehen.
Julius empfand die Atmosphäre sehr angenehm. Nach vielen, sehr offen gestellten und ebenso offen beantworteten Fragen wechselte die Gruppe in den Gebetsraum. Sie zogen die Schuhe aus und folgten der Einladung des Imams, sich auf den weichen Teppichen niederzulassen. Umständlich setzte sich Julius auf den Boden. Das Aufstehen würde nicht so einfach sein.
Dicht gedrängt stünde man hier, erklärte der Imam, und dass ein wenig Körperkontakt dazugehöre. Deshalb hätten die Frauen auch einen eigenen Raum auf dem Balkon. Er zeigte die für das Gebet vorgeschriebenen Bewegungen – eine Abfolge von Handbewegungen und Niederwerfungen, die beim Morgengebet, das war das kürzeste, zweimal und beim Mittagsgebet, das war das längste, viermal zu vollziehen wären.
Immer wieder kam jemand herein, um zu beten. Julius bewunderte die meist älteren und mitunter übergewichtigen Männer, die sich scheinbar mühelos auf den Boden warfen und wieder aufstanden.
Julius versuchte, den Unterschied zu einer Kirche zu erfassen. An Einrichtung fand er eine Gebetsnische für den Imam – offensichtlich so geartet, dass der Ton, wenn der Vorbeter, vor allen anderen stehend, aber ebenfalls nach Mekka gerichtet, seine Gebete verrichtete, zurückgeworfen wurde und damit für die anderen gut hörbar war. Auch eine hölzerne Kanzel für die Predigt gab es. Sonst war der Raum leer und, abgesehen von den bemalten und teilweise mit Fliesen eindrucksvoll dekorierten Wänden, schmucklos.
An der hinteren Wand war eine Reihe offenbar bequemer Klappfauteuils montiert. Julius hatte sie beim Eintreten nicht gesehen. Trotz der unerwarteten Weichheit des Teppichs schmerzte ihn das ungewohnte Sitzen, aber er hielt durch. Für einen Wechsel war es ohnehin zu spät.
Anders als katholische Kirchen, die man mit rituellen Gesten betrat und die, auch wenn gerade menschenleer, immer feierlich wirkten, schien es Julius, dass der große Raum seine religiöse Atmosphäre erst durch die dort betenden Menschen erhielt. Er ähnelte darin den protestantischen Kirchen, die für ihn ihre Feierlichkeit auch erst durch die jeweiligen Aktivitäten bekamen.
In der Einladung war darauf hingewiesen worden, dass Frauen bei dieser Führung keinen Schleier tragen mussten. Von den bei der Führung anwesenden Frauen trug tatsächlich keine eine Kopfbedeckung.
Erneut beantwortete der Imam Fragen. Das Familienbild war erwartungsgemäß konservativ. Männer waren verpflichtet, für ein entsprechendes Einkommen der Familie zu sorgen, Frauen konnten das, wenn sie wollten. Es gab für sie aber keine Verpflichtung dazu.
Männer durften Christinnen heiraten, anders herum war es aber nicht möglich. Auch das hing mit der Verantwortung des Mannes für die Familie zusammen. Daher musste der Mann jedenfalls ein Moslem sein.
Auf die Frage nach gewaltbereiten religiösen Gruppierungen antwortete der Imam sehr direkt. Bedauerlicherweise gäbe es Gruppen, die oft von verblendeten Menschen ohne religiöse Bildung angeführt wurden, und die ihre Ansichten mit Gewalt durchsetzen wollten. Seiner Meinung nach widersprach das dem Glauben. Der Imam betonte, dass in der Religion keinerlei Zwang ausgeübt werden durfte. Die Realität sah nicht immer so aus, dachte Julius. Nicht im Islam und, zumindest in der Vergangenheit, auch nicht im Christentum.
Missionstätigkeiten ließen sich aus den Prophezeiungen nicht ableiten und wären daher abzulehnen, fuhr der Imam fort. Aber wer freiwillig käme, wäre willkommen. Auch wenn er bloß Fragen hätte oder sich Sorgen darüber machte, was denn in der Moschee in seiner Nachbarschaft geschah.
Julius fand, dass viel zu wenige von diesem Angebot Gebrauch machten. Viele der unsinnigen Diskussionen, die er mitbekommen hatte, hätte man sich so ersparen können.
Wie es denn für die Familie wäre, fragte eine der Frauen, wenn ein Jugendlicher den Islam verlassen wolle. Der Imam räumte ein, dass man hier Religion und gelebte Praxis unterscheiden müsse. Aus Sicht der Lehre stünde die Freiwilligkeit im Vordergrund. Niemand dürfe zum Glauben gezwungen werden. In manchen Familien würde das vielleicht anders gehandhabt. Julius vermutete das auch.
Nachdenklich verließ Julius die Moschee. Er hatte wieder etwas gelernt und hing seinen Gedanken nach.
Die drei abrahamitischen Religionen bildeten ursprünglich allesamt die Moralvorstellung zur Zeit ihrer Gründung ab. Unterwerfung war das, was die Herrscher forderten, ein selbstständig denkendes und entscheidendes Volk war undenkbar. Aber die Zeiten hatten sich geändert und eine Religion, die sich nicht den gesellschaftlichen Veränderungen entsprechend weiterentwickelte, musste zwangsläufig irgendwann im Widerspruch zu den gesellschaftlichen Vorstellungen stehen.
Der Imam hatte darauf hingewiesen, dass man in Österreich keine Ausbildung zum Imam absolvieren konnte, was aber wünschenswert wäre.
Julius sah das auch so. Natürlich färbt die Gesellschaft in der man lebt und studiert auf die Glaubensinhalte ab. Und vermutlich machte es einen Unterschied, ob man das in einer hierarchisch organisierten Gesellschaft tat, in der Demokratie und Frauenrechte kein Thema waren, oder in einer Demokratie, die um Gleichberechtigung rang. Drei Imams hatte die Moschee. Der Imam, der die Führung gemacht hatte, sprach perfekt Deutsch, Arabisch und als Muttersprache Bosnisch. Ein weiterer Iman sprach neben etwas Deutsch auch Bosnisch, Arabisch, Türkisch, Bulgarisch und Russisch, was Julius einiges an Achtung abrang.
Julius Wondraschek ist ein pensionierter Beamte, stets neugierig und nicht ohne Grund übergewichtig. Mit seiner Freundin Maria hatte er den Djemaa el Fna, den Platz der Gaukler, besucht und dort die Schlangenbeschwörer beobachtet. Er hatte wieder einmal viel gegessen, viel zu viel ... und wurde von einem wirren Traum heimgesucht.
Endlich schlief auch Julius ein. In dieser Nacht hatte er wirre Träume. Einer der Männer, die das Riad durchsucht hatten, ließ eine Kobra durch das geöffnete Fenster ins Zimmer gleiten. Zwar war die Fensteröffnung vergittert, aber das konnte eine Schlange natürlich nicht aufhalten. Julius weckte Maria und die warf eine Decke über das Tier, drehte sich um und schlief weiter. Aber die Schlange hob den Kopf samt der Decke und kroch zu ihm ins Bett. Dort biss sie ihn in den Bauch. Der Biss des Tieres schmerzte und Julius schrie auf.
Maria weckte Isabelle und diese zog an einem Seil, um die Rettung zu verständigen. Offenbar war die Medina von derartigen Signalseilen durchzogen. Kurze Zeit später hielt ein Handkarren mit Blaulicht vor dem Riad. Julius wurde auf den Karren verfrachtet und abtransportiert.
Die Medina unterschied sich drastisch von jener, die er tagsüber kennengelernt hatte. Gespenstisch beleuchtete das Blaulicht die engen Häuserschluchten. In den Hauseingängen sah er Männer mit Umhängen stehen, die ihre Dolche nur unvollständig versteckten. Scharfrichter mit Kapuzen führten ihre Delinquenten an Ketten Richtung Djemaa el Fna. Die Gaukler nahmen denselben Weg, gefolgt von den Schlangen, die sich mit hoch aufgerichtetem Vorderteil über das Pflaster schlängelten.
Äußerst unbequem liegend und mit schmerzendem Bauch erreichte er das Spital. Das Gebäude sah verfallen aus, durch manche Dächer wuchsen bereits Bäume, im Geäst konnte er einige Krankenbetten erkennen.
Endlich kam er in eine Art Ordination. Der Arzt sprach mit ruhiger Stimme und wirkte sehr kompetent. Er eröffnete ihm, dass er operiert werden müsste. Auch Amputationen wären durchzuführen, dabei würden Teile des Darmes entfernt. Das ginge aber schnell. Nein, der Rückflugtermin wäre überhaupt kein Problem. Man hätte hier viel Erfahrung mit Schlangenbissen, vor allem, was die Bisse von Kobras betraf. Und die entfernten Teile würde man sofort ersetzen. Alle erforderlichen Ersatzteile hätte man natürlich lagernd. Ein Routineeingriff also, und er wäre hier in den besten Händen. Bloß drei Stunden würde er nach der Operation zur Beobachtung hierbleiben müssen. Mit dem üblichen Programm fügte er hinzu. Auch Bauchtänzerinnen würden kommen, um von den Schmerzen abzulenken. Das hätte deutlich weniger Nebenwirkungen, als die in Europa üblichen Analgetika. Der Arzt schien sehr stolz auf den medizinischen Standard seines Spitals zu sein.
Julius wurde in den Operationssaal geführt. Ein großer Tisch stand in der Mitte, auf dem Boden lagen Teile einer Hand. Ein riesiger Eunuch ergriff Julius und legte ihn sanft, fast zärtlich, auf den Tisch. An einer Wand waren die Werkzeuge aufgehängt. Julius konnte verschieden große Hämmer, Zangen und Sägen erkennen. Diese sahen genauso aus, wie er sie im Souk der Schmiede gesehen hatte. In einer Ecke stand eine Nähmaschine, ein älteres Modell zum Treten.
An der anderen Wand hingen die Ersatzteile. Arme und Beine baumelten von den Haken. Hände und Füße lagen in Schalen auf einen schmalen Tisch, dort sah er auch eine Zunge und ein Gehirn. Auf einer Rolle waren viele Meter Darm aufgewickelt. Davon würde er wohl ein Stück bekommen. In einer Ecke hingen Penisse. Sie waren verschieden groß und mit Preisschildern versehen. Julius konnte die Preise nicht lesen, aber an einem mittelgroßen Modell sah er auf einem orangen Zettel ‚offre special‘, also Sonderangebot. Auf einem sehr kleinen Modell stand der Hinweis ‚turbo‘. Auch eine Lade mit der Aufschrift ‚vagins‘ konnte er erkennen.
Der Eunuch hatte seinen Blick gesehen. „Marokko ist bei den Penissen führend“, erklärte er. „Da keine Potenzmittel mehr benötigt werden, haben wir dieses Jahr den Preis des WWF für den Schutz der Nashörner erhalten.“
Julius versuchte, sich zu erinnern, wie die Ersatzteile in den europäischen Spitälern aussahen, scheiterte aber. Wieso wusste er das nicht mehr? Dort würde man ja auch Ersatzteile benötigen. Aber vielleicht waren diese in Kühlräumen neben den Operationssälen gelagert. Er beobachtete den Eunuchen, der eine Fliege vom Gehirn verscheuchte. Dazu bediente er sich einer Pfauenfeder. Offenbar, um das empfindliche Gewebe nicht zu beschädigen. Und wo waren im Wiener AKH die Werkzeuge? Auch daran fehlte ihm jede Erinnerung.
Auf einem Beistelltisch stand ein großer Messerblock. Eine Frau in Burka betrat den Raum, wählte das größte Messer aus dem Block und begann, es mit dem Wetzstahl zu schärfen. Mehrmals prüfte sie die Schärfe des Messers mit dem Daumen, bis sie endlich zufrieden war. Offenbar würde sie operieren. Sie krempelte die Ärmel auf, und kräftige, über und über tätowierte Unterarme kamen zum Vorschein. Ein Muezzin betrat den Raum und begann zu singen. Nach ihm tanzten drei üppige Bauchtänzerinnen herein. Es ging los!
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