Leseprobe aus dem Buch "Der Puzzlespieler" von Wilhelm R. Vogel 

alle Rechte bei Autor und Verlag.


 Bernhard, der Ich-Erzähler in diesen Roman, sitzt mit seinem Co-Geschäftsführer Paul zusammen und bespricht mit ihm die Bilanz ihres gemeinsamen Unternehmens. Dabei erkennt er, wie unterschiedlich ihre Vorstellungen vom Leben sind. Bernhard ist mit den erreichten Erfolgen zufrieden, Paul aber will mehr. Und bei der Wahl der Mittel ist er nicht sehr wählerisch. 


Nett!“, meinte Paul ein paar Tage später, nachdem wir zusammen die Bilanz durchgesehen hatten. „Aber auf Dauer wird es nicht reichen.“

Wir saßen einander in unserem gemeinsamen Büro gegenüber. Glasschreibtische, futuristische Stühle und abstrakte Bilder prägten den Raum, der eingerichtet war, um Besucher zu beeindrucken. Er passte perfekt zum Firmenimage – und zu meinem Partner, der, fünfzehn Jahre jünger als ich, Golf spielte, ein rotes BMW-Cabrio fuhr und stets im gepflegten Businessanzug auftrat. Paul hatte die Hände vor dem Gesicht gefaltet und versuchte mich von der Notwendigkeit tiefgreifender Änderungen zu überzeugen: „Du musst langfristig denken. Wenn wir jetzt nicht umbauen, sind wir bald weg vom Fenster. Wir haben einfach nicht das Personal für die Zukunft.“


„Wie soll das aussehen?“


„Jung und flexibel.“


„Wieso jung? Von unseren 20 Angestellten sind nur drei über vierzig und das Durchschnittsalter liegt knapp unter dreißig.“


„Stimmt, aber mit mehr Zwanzigjährigen und weniger Vierzigjährigen wären wir billiger.“


„Und wieso flexibler?“


„Um die Falschen leichter loszuwerden.“


„Und wer sind die Falschen?“


„Die, welche nicht bereit sind, alles für die Firma zu geben. Vor einem Monat ist Florian in Karenz gegangen, ohne irgendeinen Nutzen für die Firma, und Renate hat ein zweites Karenzjahr dazu genommen.“


„Willst du jetzt keine Frauen mehr anstellen, weil die eher in Karenz gehen, oder nur noch ältere Frauen, weil diese die einzige Gruppe sind, die nicht in Kinderkarenz gehen können?“ Worauf wollte Paul hinaus?


„Du hast mich auf eine interessante Idee gebracht“, überlegte er. „Mittlerweile werden viele Männer genauso von den Kindern abgelenkt, wie Frauen. Aber es sind letztlich die Frauen, die über das Kinderkriegen entscheiden, und engagierte Frauen bekommen einfach keinen Nachwuchs. Sie sind daher rund um die Uhr verfügbar. Da lässt sich schon ein entsprechendes Bewusstsein forcieren und Verantwortung für die Firma einfordern: Die Firma hat sich auf dich verlassen! Wir haben gerade in dich viel investiert! Das kommt gerade jetzt sehr ungelegen! Du bist unersetzbar, ohne dich könnten wir nie ...! Die Andere hat auch zurückgesteckt! Gerade als Frau musst du doch die Chance nutzen, die man dir gibt, und dann das! Du willst doch, dass auch Frauen Karriere machen! Du musst es doch ausnutzen, wenn du schon einmal in einem frauenfreundlichen Unternehmen arbeitest, das deine Leistung zu schätzen weiß!“


Ich war über diesen Sermon erschrocken. Wir bildeten mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein erfolgreiches Team, jeder und jede gab das Beste. Und wenn einmal am Wochenende gearbeitet werden musste, oder auch bis zum nächsten Morgen, weil wieder einmal irgendwelche Fristen einzuhalten waren, so geschah das, ohne dass viel darüber diskutiert wurde. Im Gegenzug lief das genauso. Wenn jemand aus unserem Team einmal Probleme hatte, so ging man so weit wie möglich darauf ein. Natürlich nahmen wir auf Frauen Rücksicht, wenn diese es benötigten, genauso wie auf Männer. Ich verstand Paul nicht und schüttelte den Kopf. „Und weswegen sind wir ein besonders frauenfreundliches Unternehmen?“


„Seitdem jedes unserer Schriftstücke explizit auch auf Frauen Bezug nimmt. ‚Gendern‘ nennt man das, mein Lieber. Das große I macht es aus. Das war übrigens deine Idee, wie ich anerkennend feststellen muss.“


„Wir zahlen beispielsweise unseren beiden Sekretärinnen ein erbärmliches Gehalt.“


„Genau!“


„Aber ein anständiges Gehalt kostet Geld.“

„Stimmt!“


„Bedarfsgerechte Karenzierungen kosten auch Geld.“


„Stimmt!“


„Und familiengerechte Arbeitszeiten natürlich auch.“


„So ist es!“


„Aber das große I gibt es gratis.“


„Bingo!“


„Und wenn die Menschen, die bei uns arbeiten, doch Kinder bekommen?“


„Dann ist Flexibilität gefragt!“


„Das heißt, du willst sie rausschmeißen?“


„Nein, natürlich nicht! Aber seien wir ehrlich. Mit einem Kind brauchst du einen gewissen Spielraum. Und wenn du diesen Spielraum nicht bekommst, musst du dir einen anderen Job suchen. So leid es uns tut. Das ist ganz einfach. Wenn jemand um vier Uhr weg muss, um das Kind vom Kindergarten abzuholen, dann nehmen wir darauf Rücksicht und machen die Sitzung von drei bis vier. Natürlich dauert es dann ein wenig länger und die Entscheidungen fallen nicht vor halb fünf. Dass kennen wir und da müssen eben Prioritäten gesetzt werden. Das gilt selbstverständlich für beide Geschlechter, da sind wir politisch völlig korrekt.“ Paul zögerte, bevor er hinzufügte: „Und das hat noch einen Vorteil: Da wissen die anderen gleich, wie der Hase läuft.“


„Und wenn sie älter werden?“


„Auch ältere Arbeitnehmer haben spezifische Bedürfnisse; wenn wir ihnen diese nicht bieten, dann ist ebenfalls Flexibilität gefragt!“

Mir war offenbar nicht bewusst gewesen, wie grundverschieden wir beide dachten. Mit einem Mal kam ich mir unendlich alt vor, aber Paul fuhr mit seinen Argumenten fort.


„Alles nur eine Frage der Mathematik. Die Regierung hat das bereits erkannt und die Möglichkeit zum gelegentlichen Zwölfstundentag und zur Sechzigstundenwoche geschaffen. Das ändert zwar nichts Grundsätzliches, aber es gibt uns doch mehr Spielraum und kann uns helfen, die Spreu vom Weizen zu trennen. Ich habe dazu einige Berechnungen angestellt.“ Paul drehte den Laptop so, dass ich die türkis-, lila- und rosafarbenen Kurven sehen konnte. Ich verstand, was er damit sagen wollte, aber ich hatte keine Ahnung, wohin das führen sollte.

„Aber wozu das alles?“


„Ich weiß, wie es ist, am unteren Rand der Gesellschaft zu leben. Mein Vater war nicht bekannt und meine Mutter unbekannten Aufenthalts verreist. Pflegeeltern haben mich aufgezogen, aber denen hat es selbst an allem gefehlt. Zuerst hat mich das nicht sonderlich gestört, ich kannte es ja nicht anders. Aber als ich so um die Achtzehn war, habe ich bemerkt, dass die Mädchen, die mir gefielen, nichts von mir wissen wollten. Sie fuhren auf die Kerle ab, die nichts in der Birne hatten, aber ein Auto fuhren und ihnen den Kaffee zahlen konnten.


Da habe ich beschlossen, auch so weit wie möglich hinaufzukommen. Auch du bist nicht in ein luxuriöses Leben hineingeboren worden. Aber beide haben wir es geschafft, nach oben zu gelangen. Und jetzt geht es darum, zu erhalten, was wir erreicht haben. Das bist du auch Elisabeth schuldig, die ja von ihrem Elternhaus her einen gewissen Standard gewohnt ist. Aber wir können unseren Lebensstil nur erhalten, wenn wir weiterhin besser sind als die anderen. Es gibt keinen Stillstand. Alle wollen Gewinner sein. Und wer nicht alles tut, um Erster zu werden, der scheidet in der nächsten Runde aus und spielt überhaupt nicht mehr mit. Zweiter werden gilt nicht! Es muss immer schneller gehen, und wir schaffen es, du wirst sehen. Und denke an deine Verantwortung gegenüber deiner Frau und deinem Sohn!“


Paul nahm seinen Laptop, hob grüßend die Hand und war verschwunden. Die letzten Worte klangen in mir nach. Immer wenn die Sprache auf Elisabeth und Manuel, meinen Sohn aus erster Ehe, kam, fühlte ich mich wehrlos. Aber hatte Paul nicht in gewisser Weise recht? Für mich konnte ich verzichten, aber nicht für Elisabeth, wenngleich meine um zehn Jahre jüngere Frau über ein ansehnliches eigenes Einkommen verfügte, und nicht für Manuel, auch wenn dieser mittlerweile durchaus erfolgreich in den Vereinigten Staaten bei einer Fluglinie arbeitete.


Erschrocken sah ich auf die Uhr. Ich hatte Elisabeth versprochen, sie vom Bahnhof abzuholen. Diesen Termin hätte ich fast vergessen! Das Gespräch mit Paul war länger gewesen als geplant und die Erinnerungsfunktion meines Computers hatte ich offenbar, wie so oft, nicht aktiviert gehabt.