Leseprobe 1 aus dem Buch " Unerwartetes" von Wilhelm R. Vogel
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Späte Jugend


„Sebastian, weißt du was Glück ist?“ Igor hielt die Augen geschlossen. Das Mobiltelefon verschwand fast in seiner großen Hand. „Glück ist ein kilometerlanger Sandstrand – mit hohen Wellen und einer Dünung, die weit hinauf auf den Sand läuft. Glück ist, wenn die Wellen Krabben und anderes Kleingetier vor sich herspülen, und Glück ist, wenn man mit Maria unter Palmen liegt.“
Igor machte eine Pause. „Heiß ist es, und oft recht schwül. Aber hier im Schatten kann man es aushalten. Ja, Maria gefällt es. Sie ist schon wunderbar braun. Auch ist sie eine Wasserratte. Ich habe sie heute kaum herausgebracht. Jetzt liegt sie neben mir auf dem Bauch und erholt sich vom Schwimmen. Weit draußen waren wir heute. Trotz der Strömung. Nein, Angst hatten wir keine. Gestern waren wir übrigens tanzen. Sie war der Star des Abends. Alle haben nur zu ihr hingesehen. Kein Wunder, dass ich fast eifersüchtig geworden wäre. Morgen machen wir einen Rundflug von Mombasa zum Kilimanjaro und über den Nationalpark zum Lake Natron und zum Hufeisenkrater. Du weißt ja, ich habe den Pilotenschein.“
Maria sah zu Igor hinüber. Trotz seines hohen Alters klang seine Stimme immer noch tief und fest. Vor langer Zeit war er einmal Radiosprecher gewesen. Jetzt gingen ihm seine Haare büschel-weise aus, sein Bauch war aufgebläht und unter dem gesteppten Morgenmantel kamen spindel-dürre und fast schneeweiße Beine zum Vorschein.
Maria stützte sich auf ihren Rollator, den sie vor die Bank geschoben hatte. Das Wägelchen, das sie beim Gehen immer vor sich herschob, enthielt alle Behältnisse die, über Schläuche mit ihrem Körper verbunden, dessen Ver- und Entsorgung dienten. Wie alle anderen in dem Pflegeheim trug auch sie einen gesteppten Morgenmantel. Ihre Füße waren geschwollen und von dunklen Flecken übersät. Aber was spielte das schon für eine Rolle?
„Kannst du wirklich fliegen?“
Igor nickte.
„Mein Held!“, sagte Maria, dann schloss sie die Augen und lauschte Igor, der jetzt von einer Kanufahrt im Süden Kanadas erzählte. Schon als Kind hatte sie davon geträumt, im Indianersommer über die Großen Seen zu fahren. Sie atmete tief ein und spürte die feuchte, kühle Luft in ihren Lungen. Es war ruhig hier draußen am See. Nur Igors Stimme war zu hören. Er beschrieb Sebastian die schnee-bedeckten Berge, die jetzt am Horizont auftauchten.
Das Mobiltelefon hatte sie ihm vor einer Woche geschenkt. Das Gerät war irreparabel defekt und sie wollte es wegwerfen. „Schenk es mir!“, hatte Igor gesagt. Er war neu angekommen und sie hatten bis dahin nur einige Worte gewechselt. Als Maria zögerte, hatte er sie gefragt: „Was willst du dafür?“
„Noch einmal jung sein!“ Es hätte ein Scherz sein sollen, doch die Bitterkeit in ihrer Stimme hatte sie selbst erschreckt. Igor aber hatte das Mobiltelefon an sich genommen.
Von Kanada waren sie nach Nizza geflogen und jetzt saßen sie in der untergehenden Sonne am Strand. „Maria hat heute beim Tauchen ihren ersten Hai gesehen. Jetzt lehnt sie ihren Kopf an mich. Ihr Haar riecht nach dem Meer. Am Abend will sie sich einen String-Tanga kaufen, wie ihn die anderen jungen Frauen hier tragen.“
„Igor!“, Maria bemühte sich, ihre Stimme streng klingen zu lassen. „Wir müssen jetzt zum Abendessen gehen.“
„Sebastian, ich muss jetzt aufhören. Wir sind um sechs im Casino verabredet!“
„Du strahlst so, hast du heute etwas Schönes erlebt?“ Vesna, die im Speisesaal das Geschirr wegräumte, sah Maria fragend an.
„Vesna, warst du schon einmal in Afrika?“
Vesna schüttelte den Kopf.
„Ich schon“, Maria lächelte „… und in Kanada … und in Nizza!“